Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde (Roman)

Jhumpa Lahiri, 1867 in London geboren, wuchs in einer indischen Community in Rhode Island (USA) auf. Die Muttersprache der international gefeierten Autorin ist Bengalsch, sie verfasst ihre Bücher aber in Englisch. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u. a. mit dem Pulitzer-Preis, dem PEN/Hemingway Award und dem Commonwealth Writers‘ Prize ausgezeichnet. Seit 2012 ist sie Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Vor einigen Jahren begann Jhumpa Lahiri auf Italienisch zu schreiben. In Ihrem Essayband Mit anderen Worten (2017) schildert sie ihre Liebe zur italienischen Sprache, die sie spontan zu lernen begonnen hatte. Als sie sich mit ihrer Familie später in Rom niederließ, wurde sie sich dann ihrer eigenen Migrationsgeschichte bewusst. Daraus erwuchs ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit, das sich zu einem Lebensgefühl ausweitete. So ist der Titel des Romans, Wo ich mich finde, auch biografisch lesbar, wenngleich die Bruchstellen in der Kindheit der Autorin nur an wenigen Stellen durchschimmern.

In einer italienischen Bar, in die die namenlose Ich-Erzählerin regelmäßig geht, trifft die Protagonistin ein sechzehnjähriges Mädchen, das ohne seine Eltern in der Stadt lebt. Aus dem Gespräch mit der jungen Frau geht der Emanzipationswunsch der Jugendlichen hervor: Sie ist nicht mehr gern in ihrer Heimat, »weil ich meine Stiefmutter nicht mehr ertrage. Sie hat kein eigenes Leben, keine eigene Stimme. Meine Mutter war genauso, deswegen hat mein Vater sie verlassen. Es ist ein Modell, das nicht mehr funktioniert. Ich will eine starke Frau sein, unabhängig, so wie du«, sagt sie zur Erzählerin. Dabei ringt die Protagonistin selbst um eben diese Unabhängigkeit und Befreiung von den Erwartungen ihrer Eltern, der Gesellschaft, von ihren eigenen Mustern.

Die Literaturwissenschaftlerin und Universitätsdozentin, von der wir nicht viel Tiefgründiges erfahren, ist Ende vierzig, gebildet, attraktiv, wohlsituiert und alleinstehend. Sie hat eine Schwäche für besondere Schreibwaren, steht in gutem Kontakt zu Kollegen, Freunden, hat Affären und einen Liebhaber, ist bei den Händlern und Gastronomen ihres Viertels beliebt. Und doch ist sie immer allein. Sie geht allein zum Mittagessen, ins Schwimmbad, ins Theater oder verbringt allein ein Wochenende im Landhaus von Freunden. Ihre Begegnungen, so auch die mit dem sechzehnjährigen Mädchen bleiben flüchtig. Einzig ihr Ex-Freund, dem sie ab und zu begegnet und mit dem sie fünf Jahre zusammengelebt hat, ist für sie eine bedeutsame Beziehung gewesen. Sie hat keinen Mann und keine Kinder. Sie liebt ihren Beruf einerseits und fühlt sich andererseits unwohl unter ihren Kollegen. Diese Frau, mit der wir eine Weile durch ihr Leben gehen, bleibt wie ihre Beziehungen zu den Menschen lange ungreifbar.

Wir treffen die Protagonistin an den verschiedensten Orten: im Schwimmbad, in der Bar, im Museum, bei der Mutter, am Grab ihres Vaters, zu Hause, im Hotel, im Landhaus der Freundin, aber auch im Stillen und im Schatten. Über den Ort – im Kapitel Nirgendwo – entwickelt die Protagonistin ihr Lebensmodell und beschreibt zugleich die Unzulänglichkeit ihres Seins:

Am Ende geht es nicht um die Kulisse. Der physische Raum, das Licht, die Wände zählen nicht. Es ist nicht wichtig, ob ich unter freiem Himmel oder im Regen oder im Sommer in einem klaren Wasser bin. Ob im Zug oder im Auto, im Flugzeug zwischen den wie ein Quallenschwarm lose verstreuten Wolken: Ich stehe nicht still, sondern bin in ständiger Bewegung, in ständiger Erwartung, anzukommen oder zurückzukehren oder wegzugehen. Zu meinen Füßen ein kleiner Koffer, er wird gepackt, ausgepackt, auf dem Schoß die Handtasche, ein wenig Geld, ein noch schnell eingestecktes Buch. Gibt es einen Ort, an dem wir nicht auf der Durchreise sind? Richtungslos, verloren, konfus, durcheinander, orientierungslos, verwirrt, verstört, entwurzelt, nutzlos, verschreckt: In diesen verwandten Begriffen finde ich mich wieder. Das ist mein Wohnsitz, er besteht aus den Wörtern, die für mich die Welt bedeuten.

Jedes der kurzen Kapitel, die treffender als Szenen und Episoden beschrieben sind und die gegen die Macht der sinnhaften, kohärenten und chronologischen Erzählung arbeiten, trägt einen dieser Orte als Überschrift. Diese Orte, die die Erzählerin sich mit anderen Menschen teilen muss und ihrer individuellen Privatsphäre entbehren, stehen für die biografische Unentschlossenheit und Flüchtigkeit dieser Frau.

Und so durchlässig und unverbindlich die Orte und die Beziehungen der Protagonistin sind, so durchlässig und unverbindlich ist auch der Stil dieses Romans aus der Beobachtungsperspektive: Die Einsamkeit des Lesers im Text, die zwischen seinen Zeilen entsteht, auf der Suche nach der Entwicklung der Geschichte, auf der Suche nach der Protagonistin als einer handelnden, sich entwickelnden Figur, entspricht der Einsamkeit der Figur. Wir erfahren im Lesen ganz ungefragt und emotional selbst, was die Erzählerin und Protogonistin am meisten charakterisiert. Wir finden diese Frau nicht und sehen sie doch ganz klar vor uns. Wir sind einsam mit ihr, so wie sie sich einsam in ihrem Leben fühlt. Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter. Immer mehr gerät die Protagonistin in eine Krise des Seins: Wer bin ich? Welchen Sinn hat mein Leben? Wo kann ich mich finden? Das sind die großen Fragen, die sie sich stellt, und auf die sie lange keine Antwort weiß:

Ich denke an die Worte des großen Schriftstellers Corrado Alvaro, die ich in seinem Roman »Il mare« unterstrichen hatte: »Entsetzt fliehe ich nach einiger Zeit in den Schatten der großen Flamme: Es kommt mir vor, als würde sie mich verzehren, mich erfassen und in ein noch kleineres Wesen dieser Erde verwandeln, in einen Wurm oder in eine Pflanze … Ich kann an nichts denken, alles erscheint mir unnütz, das Leben wirkt extrem einfach, es ist mir egal, dass sich niemand um mich kümmert, dass mir fast niemand mehr schreibt.«

So schmucklos und karg wie das Leben der Protagonistin ist auch die Sprache der Ich-Erzählerin. Einfach und fast monoton ist ihr Rhythmus. Alles folgt der Macht der Gewohnheit, der Gewissheit ihres glanzlosen Alltags, der ihr zugleich andauernd das Gefühl gibt, fremd zu sein. Fremd in der Welt. Fremd im eigenen Leben, dem Leben einer Einzelgängerin. Es ist einerseits genau diese Einsamkeit, die die Wahrnehmungsfähigkeit der Erzählerin schärft, sie die Menschen und Details um sie herum erkennen lässt. Inhalt und Form bedingen einander fast lehrbuchhaft. Denn ohne die Sprache und die Beobachtungsperspektive würde andererseits nicht ein derart sensibles und unverblümtes Stimmungsbild einer Frau in der Mitte ihres Lebens entstehen.

Für ihren Roman, auf dessen Erscheinen lang gewartet wurde, erhielt die gefeierte Autorin viele gute Kritiken. »Jhumpa Lahiri verzaubert die Banalitäten des Alltags in Miniaturen von makelloser Schönheit«, schreibt Stefan Kister in der Stuttgarter Zeitung am 22. Mai 2020. Doch es passiert wenig in diesen Miniaturen und so fesselnd, wie viele Kritiker Lahiris Roman gelobt haben, ist er nicht. Die Sehnsucht nach der Entwicklung der Figur, nach einem großen Erzählbogen bleibt ungestillt. Einzig die Konzentration auf das Kleine, bindet den Leser eng an diesen Text und das Wesen dieser Frau. Denn nur dort kann er herausfinden, wie es wirklich um diese Frau bestellt ist, die nicht glücklich, aber auch nicht wirklich unglücklich wirkt.

Gegen die innerlich empfundene Leere unternimmt die Protagonistin Ausflüge mit ihren Kindern und dem Mann einer guten Freundin. Sie passt auf seinen Hund auf. Doch ihre Treue zu diesem Mann ist eine unerfüllte Liebe. Auch die Menschen, die ihr nahe stehen, bleiben für ihr eigenes Erleben letztendlich bedeutungslos. Sie geht in Bars, Schwimmbäder – doch irgendwann reichen diese Beschäftigungen nicht mehr. Bei einem Ausflug am Meer geschieht etwas Unerwartetes. Sie trifft eine Entscheidung, mit der sie selbst nicht gerechnet hat. Sie will die Grenzen ihres Lebensraums überschreiten und entscheidet, die Stadt zu verlassen. Ein Auslandsstipendium gibt ihr die Möglichkeit für ein Jahr ihrem Alltag zu entfliehen: Ein ganzes Jahr lang (…) muss ich nicht einkaufen, weder kochen noch Geschirr spülen. Ich werde an keinem einzigen Abend allein essen müssen.

Die Pläne lassen in der Erzählerin jedoch nur wenig Vorfreude auf neue Horizonte, Hoffnung auf Veränderungen und Vertrauen in ihre Weiterentwicklung aufflammen. Einzig die Aussicht, Teil einer festen Gemeinschaft zu sein, motiviert die Erzählerin, sich auf die Reise zu machen. Doch die Botschaft ist so bescheiden wie groß: In der Selbstüberschreitung, in der eigenen Entgrenzung im Hier und Jetzt liegt unser Ich geborgen. Dort finden wir uns, stabil und wahrhaftig, nicht in den vermeintlichen Zielen, die wir uns setzen, und in den Erwartungen, denen wir folgen. Eine schöne Perspektivierung.

Jhumpa Lahiri, Wo ich mich finde, Übersetzung von Margit Knapp, Rowohlt Verlag 2020