In Frankfurt am Main ereignete sich eine Sternstunde in meinem Leben, als ich im Suhrkamp Verlag im schönen Westend hospitierte. Es war Winter, die Luft weiß und grau, das Jahr noch jung, die Hoffnungen groß, die Freiheit wie eine Umarmung nach einem langen Weg. Gerade den Magister in der Tasche, war ich aufgebrochen, das erste Mal in eine wirklich große Stadt – ja, so war das damals für mich.
Ich strandete in der Wohnung einer Frau, die während meiner Ankunft in einem traditionellen hessischen Lokal kellnerte, ein rotes Ampelmännchen am Schlüsselbund, den sie mir vertrauensvoll vorher zugeschickt hatte, wie ein Vorbote auf meine heutige Wahlheimat Berlin. Es war stockduster, nicht nur in Bockenheim. In der Wohnung roch es nach abgestandenem Rauch aus der Küche, ich bekam kaum Luft im fünften Stock, im Dunkeln, in der Fremde. Ankommen, gar nicht so leicht, das wusste ich schon aus Kindertagen, aber auch als junge Erwachsene schien es nicht einfacher. Und doch war es gut. So gut, dass mir jene Frau bis heute eine Gastgeberin geblieben ist, wenn ich wieder in mein geliebtes Frankfurt fahre, um ein wenig Skyline zu gucken und die Frankfurter Buchmesse zu besuchen. Heute wird auch in der Küche nicht mehr geraucht, ich habe dem Laster längst entsagt und meine Gastgeberin und Freundin hat inzwischen einen Balkon. Doch der Reihe nach.
Es war dunkel. Und dann entdeckte ich Frankfurt am Main, die Stadt der Banken, mit einer Skyline, die damals wie heute den Himmel zu küssen scheint, so groß, so beeindruckend und weltgewandt. Und dazwischen hessische Gemütlichkeit und Enge, Geschwätzigkeit, die auf Kosmpoliten am Römer trifft, am Museumsufer, überall dort, wo es schön ist. Nicht entlang aller Flüsse kann man in Deutschland so schön spazieren wie am Main in Frankfurt. Die Stätten der Kunst, die sich dort aneinanderreihen, bilden die Skyline europäischer Kultur in dieser Stadt. Es ist diese positive Spannung, die Frankfurt am Main auszeichnet, nicht Dorf, nicht Metropole und doch beides. Eine Stadt mit Geschichte und zukunftsgerichtet, international und doch heimelig, gemütlich und kalt, bunt und stereotyp. Frankfurt am Main ist vielleicht die am meisten unterschätzte Stadt für all jene, die sie nicht kennen. Aber wer sie kennt, das kulturelle, finanzstarke, lässige und politische Frankfurt, der liebt es. Nur die Ahnungslosen haben ihre Vorurteile schneller rausgepresst, als man seine Erzählung von dieser Stadt zuende gebracht hat. Wer aber auf einen Kenner trifft, der versteht sich sofort!
Für einen Buchmenschen wie mich ist Frankfurt am Main ohnehin eines der Zentren der literarischen Welt. Kein Buchmensch, der nicht zur Zeit der Frankfurter Buchmesse in diese Stadt pilgert. Der Suhrkamp Verlag, der 1950 in Frankfurt am Main gegründet wurde, zog 2010 nach Berlin, aber in Frankfurt am Main hat er seine ganze Nachkriegsgeschichte geschrieben und mit seinen Programmen und Autoren die bundesdeutsche Gesellschaft und Kultur nachhaltig geprägt. Als ich gerade im Lektorat des Suhrkamp Verlags hospiterte, fiel die Entscheidung für den Umzug des Verlags – aufregend: der Widerstand, die Zweifel, die Presse, die öffentliche Diskussion, die persönlichen Entscheidungen und Lebensentwürfe, die daran hingen. Und ich mittendrin. Habermas spazierte an mir vorbei, als gäbe es keine anderen Normalitäten. Der historische und intellektuelle Geist, der durch die Räume wehte, schürte täglich meine Ehrfurcht, und sogleich hatte sich längst eine andere Zukunft angekündigt. Schwer engagiert versuchte ich meinen Platz in dieser Welt zu finden. Und ich fand ihn.
Nicht erst in meinem Volontariat im Piper Verlag viele, viele Jahre später und all dem, was dann folgte, sondern schon damals, in Frankfurt am Main, fand ich ein besonderes Plätzchen. Es war wieder so ein grauer und weißer Tag, in der Abteilung hörte man die Lampen surren, ich war müde, hatte keine Lust auf meine Mitstreiterin am Tisch gegenüber und blickte einem langen Tag entgegen. Meine Betreuerin war nicht da. Da kam die damalige Volontärin und überließ mir für diesen Tag, an dem auch sie nicht im Hause sein würde, ihr Büro. Auf ihrem Schreibtisch wartete der Kriminalroman eines italienschen Autors auf mich, dessen Lektorat ich durchsehen durfte, um auch die letzten Fehler zu tilgen und stilistischen Änderungen sicherzustellen.
Ich begann zu begreifen, was dieser schöne Beruf eigentlich bedeutet – Konzepte finden, Ideen entwickeln, Kulturen zusammenbringen, Sprache(n) formen, Individualitäten achten, Menschen ansprechen, das Leben reflektieren, Stil ausbilden, in der Stille arbeiten, Präsenz schaffen u. v. m. Und so surrte es plötzlich in meinem Kopf, der Blick auf das gut gefüllte Bücherregal an der Wand, weiß das Licht draußen, grau verästelt das Fenster, Blick auf die Lindenstraße. Plötzlich konnte der Tag nicht lange genug dauern, und ich zählte all die Sterne, die mir bis zum Abend in die Arme fielen: Buchstaben, Bücher, Bilderwelten, Bildungshorizonte.