Neuerscheinungen im Hardcover und Paperback 2022, eine Auswahl
»Die einzige Möglichkeit, etwas vom Leben zu haben, ist, sich hineinzuwerfen.« (Christian Huber)
Der Sommer neigt sich seinem Ende. Und auch, wenn in diesem Jahr die andauernde Hitze den Wunsch nach baldiger Abkühlung für die Natur und unsere Gemüter freigesetzt hat, so genießen wir insgeheim, dass sie, die Hitze dieses Sommers, noch nicht ganz vorbei ist, so lange angedauert hat. Denn wie alle Sommer ist auch dieser einzigartig. Es ist DER Sommer, an den wir uns immer erinnern werden. Bis zum nächsten Sommer. Bis zum übernächsten Sommer. Noch bis zum zehnten Sommer infolge, wenn wir zurückdenken und uns erzählen: Weißt du noch, in diesem Sommer vor zehn Jahren? Dass ein Sommer so lange Zeit überdauern kann, liegt an seiner Magie, die dem Moment entspringt: »Die einzige Möglichkeit, etwas vom Leben zu haben, ist, sich hineinzuwerfen.« Christian Huber, von dem dieser Satz stammt und dessen Roman Man vergisst nicht wie man schwimmt uns als »Der Roman des Sommers« verkauft wird, beschreibt damit den Ursprung dieser Magie: Hingabe. Hingabe bezieht sich immer auf den Moment, mag er ein langer sein oder sich durch seine Aneinanderreihung zu einer Zeitspanne ausdehnen. Im Moment der Hingabe vergessen wir unsere Matrix, die Koordinaten unseres Alltags, genauso wie die unserer Träume und Visionen. Wir sind. Wir fühlen. Wir erleben. Das ist Sommer. Heiß, intensiv, selbstvergessen.
Kein Wunder, dass wir nicht gern Abschied nehmen von einer so magischen Zeit. Wir wissen: Der kommende Winter wird lang. Mag der Winter in München und Umgebung die Welt verzaubern, ist er in vielen anderen Regionen, etwa in Berlin, ein langer grauer Block. An diesen Orten können wir ihn nicht einmal milchig oder nebelig nennen, um romantische Novemberbilder hervorzurufen oder strahlende Schneetage im Januar zu assoziieren. Doch vielleicht haben wir Berliner deshalb einen Blick für das Glück und sorgen gern ein bisschen vor: Wir können uns auf die Literatur verlassen. Klar, Klassiker wie Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht (1979) beschert jeder Leserin und jedem Leser vergnügliche Stunden. Doch wir wollen uns wärmen, an das gelbe Licht erinnern, die rot gewordene Haut, den knallblauen Himmel, die wäscheweißen Wolken und den grünen Salat, oder war es Götterspeise? Mit der Literatur können wir in die Verlängerung gehen. Sind die meisten Sommerromane 2022 schon im Frühjahr erschienen, so haben wir im Sommer mit Sicherheit noch nicht alle gelesen und können auch im frühen Herbst noch auf sie zurückgreifen. Und wer weiß, vielleicht wird es ein goldener Herbst und wir warten noch bis zum grauen Winter auf nicht enden wollende Lesestunden.
Sommerromane, von ihnen geht eine Faszination aus, denn wir lesen sie genau dann, wenn wir den Takt unseres Alltags verändern, wenn wir ihn aufschieben wollen, wenn wir ihn nicht mehr ertragen, ihm entfliehen, uns Flügel wachsen lassen, wenn die Tage länger und die Nächte kürzer werden, oder wenn der Arbeitsalltag gegen Urlaub eingetauscht wird. Wir möchten uns in diese Romane hineinschmeißen wie in einen Pool, um uns abzukühlen, von der Hitze zu erlösen, die uns bedrängt, wenn wir uns keine Auszeit nehmen. Beim Sprung in den Pool befreien wir uns von den klebrigen Resten des Tages auf unserer Haut, von unseren Gefühlen von gestern, von unseren Gedanken an morgen. Und ist es nicht der Pool im Sommer, dann kann es genauso die Kuscheldecke im Winter sein, die uns vor der Kälte schützt, uns in Stille hüllt, uns vor unseren Sorgen beschützt. So oder so, wir haben doppelten Glück: den Sommer zu erleben und Bücher zu lesen. Beide Male geben wir uns dem Moment hin. Wir tauchen ab, vergessen unsere Matrix und entdecken eine neue. Wunderbar!
Im Sommer 2021 hat Ewald Arenz mit Der große Sommer (Dumont) viele Leserinnen und Leser begeistert, weil er an einen Sommer erinnert, den wir alle kennen: Den letzten Sommer unserer Schulzeit, den Sommer nach unserem Schulabschluss, nach dem Abitur. Auch dieser Roman schenkt uns eine Auszeit von der Normalzeit, erzählt aber vielmehr von einem Übergang, einer Zeit des nicht mehr und noch nicht. Eine Zeit, in der wir noch einmal alles ändern können, in der wir lernen mit unserer Freiheit umzugehen. Das ist gar nicht immer so leicht, weil in dieser Freiheit, ganz gleich, ob wir wie die Schüler eines Abschlussjahrgangs darauf hingefiebert haben oder ob sie uns unverhofft ergreift – auf einer Reise, durch einen Besuch, eine plötzliche Langeweile, eine Sommerliebe – nicht wissen, was uns im Moment der Hingabe erwartet. Wir wissen es vorher nicht. Und dass, obwohl dieser Moment wahrscheinlich einzigartig ist. Auch dieser Ungewissheit entspringt die Magie. Sie hat keinen Anfang in der Vergangenheit und kein Ziel in der Zukunft.
Gerade Sommerromane bieten zahlreiche Zerstreuungen, wir reisen in bestimmte Länder, in denen wir uns verlieben, Frauen finden endlich Mr. Right, weil sie Mr. Wrong endlich nicht mehr hinterherlaufen. Romane, in denen wir aus Familien und Beziehungen ausbrechen, Pflichten und Herausforderungen hinter uns lassen und uns unserem wahren Sinn des Lebens nähern; Sommer, in denen wir unser Leben auf ganz neue Füße stellen. Ganz gleich wie ernst oder leicht die Literatur ist, der wir uns zuwenden, der Moment verbindet sich mit großen Erlebnissen, großen Gefühlen, großen Fragen, ohne dass sie uns erdrücken. Wir begegnen ihnen mit den Rhythmen zeitloser Tage, den ungeahnten Melodien unbekannter Welten. Mit Neugier, Freude und Leichtigkeit.
Einer fast unfassbaren Menge an Sommerromanen ausgesetzt, werfen wir im Folgenden einen Blick auf ausgewählte Sommerromane, die im Hardcover und im Paperback 2022 erschienen sind. Dabei nehmen wir allein diejenigen Romane in den Blick, bei denen es der Sommer schon in den Buchtitel geschafft hat. Und dann stellen wir schnell fest, da gibt es nicht nur einige Fundstücke, sondern auch die Buchtitel geben uns Hinweise auf die besondere Magie dieser Jahreszeit, nach der wir uns alle sehnen, ganz gleich wie anstrengend, überraschend, ungewöhnlich oder schicksalhaft sie sein kann: Der Sommer ist unendlich kurz und doch ewig, verbunden mit bestimmten Landstrichen und Orten und für alle Figuren und Leserinnen und Leser sicher eines – unvergesslich!
Unvergesslich sein – das schürt Erwartungen, die die Figuren von Franziska Gänsler in Ewig Sommer (Kein & Aber) beschäftigen, aber auch mich als Leserin beschäftigt haben. Was erwarte ich nicht nur von meinem Sommer, sondern auch von einem guten Roman? Wieso hat er mir besser oder schlechter gefallen als erwartet? Die Protagonistin in Ewig Sommer ist die noch junge Hotelbesitzerin Iris, um Mitte dreißig, die auf den ersten Blick ziemlich wenig zu erwarten scheint. Sie hat sich in ihrem einsamen Alltag eingerichtet, denn in dem Hotel im einstigen Ferienort Bad Heim, der von einem großen Waldgebiet umgeben ist, kehren wegen der sengenden Hitze und den nicht enden wollenden Waldbränden keine Gäste mehr ein. Iris war als Kind oft mit ihrer Mutter hier, die bereits mit zweiunddreißig Jahren starb. Damals blieben sie nie lange zu Besuch bei Iris Großeltern und ihrer Tante, die das Hotel führte. Iris Mutter wollte nie lange bleiben, sie schien es viel mehr darauf abzusehen, immer wieder zurückkehren zu können. Nachdem Tod ihrer Tante, übernahm Iris das Hotel. Von der Familie ist niemand mehr da. Nur Iris Nachbarin, die Baby genannt wird und die ihr einst bei der Pflege der Großeltern geholfen hatte, lebt noch vor Ort. Und so ist Iris geblieben.
Mitten hinein in diese Szenerie dringt Dori mit ihrer kleinen Tochter Ilya. Aus sicherem Abstand beobachtet Iris ihre neuen Gäste: die junge Schauspielerin, die in ihrem Alter zu sein scheint, und das kleine Mädchen, das sie immer wieder allein vorfindet. Dabei scheint der Abstand, aus dem Iris ihre Gäste beobachtet, auch ein Sicherheitsabstand zu sich selbst zu sein. Fast etwas befremdlich wirkt diese Beobachtungsgabe, mit der Dori und Ilya immer genauer umrissen werden, aber die Protagonistin selbst fast etwas in den Hintergrund gerät. Fast ist sie eine blasse Figur. Doch je mehr wir uns mit Iris fragen, wer diese junge Mutter und ihre Tochter sind, desto mehr stoßen wir auch auf die Geschichte, die zu Iris gehört. Wer ist diese Iris, was denkt und fühlt sie, was ist ihr Geheimnis? Bis zum Schluss scheinen wir nicht ganz in die Tiefe der Protagonistin vorzudringen, können nicht ganz erfassen, was in ihr brennt, werden nicht so hingerissen, wie es ein unvergesslicher Sommer – ob schön oder weniger schön – verspricht. Jedes Gefüh, das wir für diese Figuren entwickeln, jedes Gefühl der Figuren, das wir mit ihnen erleben dürfen, bleibt geprägt von diesem Beobachtungsmoment, dass auch in der größten Dichte noch eine kleine Distanz setzt, einen Abstand schafft, der uns aber auch davor schützt, mit den Figuren in ihren Abgrund zu stürzen. Iris bleibt ein kontrollierter Charakter. Doch es brennt, das ist deutlich zu spüren, nicht nur im Wald. Die dichte Atmosphäre, die dieser Roman im Außen zu erzeugen vermag, steht metaphorisch für das Innere der Figuren, aus dem beide Frauen jedoch nicht ausbrechen können.
Dori wird von ihrem Mann gesucht. Er hält sie klein, beschimpft sie als schlechte Mutter, kümmert sich um Ilya, wenn Dori wieder einmal überfordert ist, hilft ihr aber auch nicht, es besser zu machen, da er sie überwältigt mit seiner narzisstischen Liebe, seinen Glaubenssätzen, seinen Vorstellungen. Und so wie wir in den Abgrund dieser jungen Frau auf ihrer Flucht schauen, die wegen eines Gedichts von Iris Mutter ausgerechnet nach Bad Heim gekommen ist, schiebt sich Iris Vergangenheit immer mehr in die Gegenwart. Die Erinnerung mischte sich mit möglichen Versionen einer Gegenwart, gegen die ich mich damals entschieden hatte. Mein Leben, Bad Heim, das Hotel. Paula hatte nicht verstanden, warum ich an allem hier festhielt. (S. 88) Iris entdeckt Ähnlichkeiten zwischen ihrer Mutter und Dori, die sie selbst überraschen. Iris Mutter war erst sechzehn als sie zur Welt kam, war überfordert, rastlos, immer ein wenig auf der Flucht. Als die Brände an Gefahr zunehmen, und Dori von ihrem Mann, der seit Tagen auf der Spurensuche nach seiner Frau im Hotel anruft, gefunden zu werden droht, flammt für beide Frauen einen Moment lang die Idee eines besseren Lebens auf: Eine gemeinsame Zukunft, in der Iris die Lücke, die ihre Ex-Freundin Paula und ihre Mutter hinterlassen haben, füllen kann. Eine Zukunft, in der Dori wieder als Schauspielerin arbeiten kann, statt eine schlechte Mutter zu sein. Ein Leben, in dem beide frei sind, der Mensch zu sein, der sie nicht geworden sind. Ein Leben, in dem sie ihrer Einsamkeit und Unzulänglichkeit entfliehen können. Doch es gelingt ihnen weder sich selbst noch den anderen zu retten:
Ich beobachtete die Szene aus der Entfernung. Und dann wusste ich es. Sah es daran, wie Dori Ilya an sich presste, daran, wie ihr Blick mitten im Raum lag, ohne etwas zu greifen. Sie hatte eine Version der Geschehnisse erhalten. Sie saß und hielt ihr Kind und akzeptierte dabei ihre Schuld und ihre Unzulänglichkeit. Ich sah die Härte, mit der sie mit sich ins Gericht ging, wie die Anschuldigungen ihres Mannes wieder Zugriff erhielten, in ihr Halt fanden. Egoistisch, zerstörerisch. Unfähig, Ilya zu versorgen. (…) Während draußen der Regen einsetzte, in warmen Schnüren durch den Rauch fiel und im Kies dünne, staubige Rinnsale bildete, während drinnen die Menschen an den Fenstern standen, weinend, Erleichterung in den Gesichtern, saßen Dori und Ilya am Rand. Ich stand hinter dem Tresen. Ihr Körper, der jetzt wieder hart war, ihre Arme, die Linie ihres Kiefers. Ich sah, dass sie gekippt war. (S. 188-89)
Die beiden Frauen brechen auf, um eine falsche Fährte für Doris Mann zu legen, doch die Hitze ist für die kleine Ilya zu viel. Sie dehydriert, fällt in Ohnmacht, reagiert nicht mehr. Iris fährt mit Dori, die sich in diesem Fall nicht länger der Realität entziehen kann, und Ilya ins Krankenhaus, womit sich der Aufenthaltsort von Dori und Ilya nicht länger geheimhalten lässt. Anschließend fahren sie ins Hotel zurück. Dort wird Dori von ihrem Mann abgeholt, und Iris bleibt allein zurück, dort, wo ihre Familie Heimat und Gemeinschaft fand, ob für kurz oder lang. Das Einzige, was sicher ist, ist Bad Heim. So wenig es auf der Suche nach Gewissheit eine Hoffnung nach Heilung und Glück gibt – für die beiden Frauen, für den Wald und die Klimaentwicklung –, so wenig entwickeln sich diese beiden Frauenschicksale, ihre Charaktere, erahnt man auch, was alles in ihnen steckt. Das emanzipatorische Bündnis der beiden Frauen, von Vergangenheit und Gegenwart, währt nur kurz. Der Roman ist keine Charakterdarstellung, wie man es bei einem kammerspielartigen Setting wie diesem erwarten könnte. Vielmehr entdeckt sich die Protagonistin überhaupt erst selbst: »Der Abgrund, der sich damit in mir auftat, erschreckte mich. Da, wo ich kurz ein gemeinsames Leben gesehen hatte, stand ich jetzt wieder allein. Ich sagte mir, dass ich nichts Reales verloren hatte.« (S. 189) Das Ringen um sich selbst ist stärker als die Veränderung. Die Figur findet darin genau ihren Charakter, nicht aber Tiefe.
Der Roman ist aber auch kein Klimaroman, wie ihn Ariadne von Schirach genannt hat. Zu reduziert und auf den Alltag bezogen bleibt meines Erachtens die Auseinandersetzung mit der Natur: Obwohl mir klar war, dass diese Bilder im Fernsehen mich, das Hotel, Bad Heim direkt betrafen, obwohl ich wusste, dass alles immer nur schlimmer werden würde, dass der Herbst nicht mehr kam und der Winter nur eine Pause war, die jedes Jahr kürzer wurde, war es, als würden die Kommentatoren, die Jugendlichen, die Reporter über etwas anderes sprechen. Obwohl das Feuer durch die Fenster sehen konnte, die Situation im Wald blieb für mich ungreifbar. Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Brand erschöpfte sich im Beseitigen der Flugasche, im Instandhalten meiner kleinen Welt. (S. 44)
Vielmehr ist dieser Roman für mich eine Art Stillleben, das er vermag, in einem Bild eine Ewigkeit auszudrücken, eine Stimmung hochzuhalten und ein Gefühl zu erzeugen, das nicht mehr vergeht, mag das Leben auch noch so vergänglich sein. Darin liegt die Kraft dieses Romans, der nie langweilig wird, der einen anzieht bis zur letzten Seite, auch oder gerade weil er unsere Erwartungen nicht erfüllt. Und so beschreibt dieser Roman im weitesten auch ein Nachdenken darüber, was wir von uns und unserem Leben eigentlich erwarten können. Eine kluge Frage und eine atmosphärische Dichte zur Antwort, die die Figuren übertrifft und überdauert. Ewig Sommer, das ist mehr eine Stimmung als eine Entwicklung, das ist mehr ein Gefühl als ein Ereignis.
Wer an seinen Sommergefühlen noch etwas festhalten mag, obwohl unser Sommer schon vorbei ist, der kann sich einer Reihe Sommerromane, allesamt Neuerscheinungen 2022, glücklich schätzen. Neben Franziska Gänsler, sei verwiesen auf Thommy Bayer, Sieben Tage Sommer, Piper; Heinz Strunk, Ein Sommer in Niendorf, Rowohlt; Franziska Gänsler, Ewig Sommer, Kein & Aber; Lenz Koppelstätter, Almas Sommer, Kindler; Francesca Reece, Ein französischer Sommer, Fischer; Kristina Pfister, Ein unendlich kurzer Sommer, Fischer; Christian Huber, Man vergisst nicht wie man schwimmt, »Der Roman des Sommers«, dtv.
Viel Freude beim Lesen!