Luca Rohleder hat über fünfundzwanzig Jahre erfolgreich als Berater und Coach gearbeitet und leistete wertvolle Pionierarbeit zum Thema Hochsensibilität. Er gründete das »Netzwerk Hochsensibilität«, das bis heute zu einem der größten seiner Art im deutschsprachigen Raum gehört. Seit ein paar Jahren widmet er sich vorrangig der Philosophie, der Kunst und dem Schreiben.
In seinem Buch Die Berufung für Hochsensible, das bereits in der 5. Auflage im Leipziger dielus Verlag erschienen ist, präsentiert Luca Rohleder ein dreiteiliges Persönlichkeitsmodell, das »Drei-Ich-Modell«, von dem ausgehend er zeigt, wie sich Hochsensible von normalsensiblen Menschen unterscheiden. Doch zunächst wirft er einen Blick auf die Ursprünge von Hochsensibilität: Sie entspringt »Extremformen« der Wahrnehmung und einem besonderen Gespür für alltägliche Situationen.Die Folgen dieser Wahrnehmungsgabe für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und Lebensführung sind bei weitem nicht so banal, wie es viele Kritiker dieses anfänglich unspezifisch erscheinenden Phänomens annehmen. Ihnen setzt Luca Rohleder spezifische Begrifflichkeiten entgegen, die er theoretisch entfaltet und mit Empfehlungen und praktischen Ratschlägen für die persönliche Lebensführung Hochsensibler verbindet. Der Autor richtet sich neben seinen Kritikern vor allen Dingen an Menschen, die sich selbst als Hochsensible entdecken oder bereits erleben sowie an Menschen, die Hochsensible in ihrem Umfeld, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis kennen und besser verstehen wollen.
Hochsensible Menschen sind damit konfrontiert, sich aufgrund vieler Eindrücke immer wieder erschöpft und überfordert zu fühlen. Daraus leitet sich für sie das Gefühl ab, anders zu sein, nicht ganz in diese Welt zu gehören oder nicht richtig zu sein, so wie sie sind. Die Fatalität hochsensibler Wahrnehmungs- und Erlebensprozesse besteht darin, dass hochsensible Menschen, gerade wenn sie besonders genial, das heißt außergewöhnlich begabt und kreativ sind, an die Grenzen ihrer Kräfte gelangen, bis hin zum Zusammenbruch. Hochsensible erkennen oftmals nicht, wann ihr Engagement in eine fehlgeleitete Selbstaufgabe kippt. Ihre eigenen Ideale sind häufig blind gegenüber den Interessen, an denen anders sensible Menschen ihr Handeln und Denken ausrichten und die wenig oder gar nicht auf die Ideale verweisen, aus denen heraus Hochsensible handeln. Hochsensible Menschen lehnen sich oft (zu) weit aus dem Fenster, obwohl es ihnen selbst vielfach gar nicht und der Sache nur bis zu einem bestimmten Grad dienlich ist. Tragischerweise korrespondieren ihre eigenen, unbewussten Motive und ihre tatsächlichen Bedeutungen dabei nicht mit den Wahrnehmungen und ihren Bewertungen seitens ihrer Mitmenschen, seien es Kollegen, Freunde oder Verwandte.
Gerade im Berufsleben empfiehlt Luca Rohleder realistisch zu bleiben und Lebensveränderungen nicht zu überstürzen, wenngleich dieses Buch sehr deutlich macht, dass das Arbeiten in Selbständigkeit gemessen an den Persönlichkeitsmerkmalen hochsensibler Menschen ein besonders geeignetes Lebensmodell für Hochsensible ist. Hochsensible haben einen guten Geschäftssinn, sind kreativ und erfinderisch. Ihr Geschäftssinn fußt auf einer Reihe Eigenschaften: ein intuitives Wissen von den Zusammenhängen in der Welt, ein ausgeprägtes Harmonieverständnis, große Gewissenhaftigkeit sowie Loyalität und ein starker Gerechtigkeitssinn. All diese Eigenschaften – und alle weiteren im Buch beschriebenen Merkmale, die sich aus dem Streben nach Unabhängigkeit und hochsensibler Schöpfungskraft ergeben – bergen jedoch neben Höhenflügen auch Konfliktpotenziale. Schwierig wird es immer dann, wenn aus der Gabe eine Last wird, etwa wenn aus dem Sinn für Ordnung und Harmonie ein übertriebener Perfektionismus wird, das Pflichtbewusstsein zur Selbstausbeutung oder das Bedürfnis einfühlsamer beachtet zu werden zur Überbewertung der Schattenseiten anderer führt – nicht aus Hysterie oder Böswilligkeit, sondern infolge einer besonderen Verletzlichkeit ihrer selbst. Da sich die Bedürfnisse Hochsensibler häufig nicht in einem den Klischees entsprechenden Verhalten zeigen, sorgen ihre Reaktionen bei anderen immer wieder für Irritationen und Widersprüche, zum Beispiel wenn sich ihr zurückhaltendes Naturell mit einer dominanten Seite und einem Führungsanspruch verbinden.
Um mit dieser Schieflage fertig zu werden, spricht Luca Rohleder eine klare Empfehlung aus: Lassen Sie los und stärken Sie Ihre Instinkte gegenüber Ihrem Verstand. Und bitte keine Angst: »Ängste torpedieren ihre intuitiven Fähigkeiten« (Seite 77). Aus dieser Umwertung folgert der Autor den entscheidenden Leitfaden für hochsensible Menschen: eine intuitive Lebensführung. »Ihre Intuition können Sie als Ihren körpereigenen inneren Schutzengel betrachten« (Seite 76). Allein im Rahmen einer solchen Lebensführung können hochsensible Menschen die Komplexität ihres gemeinhin scharfen und analytischen Denkens und ihres tiefens Fühlens für ihr eigenes Leben fruchtbar machen. Intuition ist weit mehr als ein Bauchgefühl, sie bedeutet, über ein komplexes Wissen und ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen zu verfügen. Letzteres ist so filigran entwickelt, dass die Stimmungen und Lebenskontexte anderer Menschen ständig mitverarbeitet werden müssen. Intuitiv zu leben, ist ein Leben in Vertrauen, aus dem Gefühl heraus statt in Kontrolle. Es bedeutet vielfach auch, langsamer und bewusster zu leben und mit sich selbst umzugehen, als dies gesellschaftlich anerkannt und gewollt wird.
Gerade da hochsensible Menschen zu kognitiven Spitzenleistungen und einer Dauerbelastung ihres Verstandes neigen, gehört es zu ihren Aufgaben, ihre Gefühlswelt im Alltag stärker und ganz bewusst zu aktivieren, um den nötigen Ausgleich zu finden. Neben ihrer Kraftquelle der Intuition bedeutet das, bodenständig, gegenwartsbezogen und authentisch zu sein. Denn Hochsensible verfügen über ein viel breiteres Spektrum an Urinstinkten als normalsensible Menschen. Luca Rohleder rät daher dazu, sich seinen individuellen Weg zu bahnen, statt sich an Systemen und Konventionen abzuarbeiten, die hochsensiblen Menschen signalisieren, nicht ankommen zu können, wenn sie sich nicht als Persönlichkeit ändern. Rohleder nimmt den umgekehrten Weg: nicht den Menschen ändern, sondern seine Lebensumstände, die er selbst gestalten kann. Wichtig ist, betont der Autor, mit einem starken Realitätssinn zu agieren. Dieser Ratgeber ist an keiner Stelle geneigt, spirituelle oder religiöse Erklärungsmuster oder Lösungswege anzubieten. Statt zu verklären, empfiehlt Luca Rohleder seinen Lesern vielmehr, mit den Realitäten konstruktiv zu arbeiten, sie anzuerkennen und anzunehmen und vor allem, sie richtig einzuschätzen.
Der Ratgeber von Luca Rohleder ist ein Plädoyer für das Vertrauen in unsere eigenen Talente und Gaben, in unser Wissen und unsere Intuition, in das, was uns im Leben passiert, wenn wir nicht darüber nachdenken oder grübeln, ob in die Vergangenheit zurück oder in die Zukunft voraus. Denn, so Rohleder, in unserer Intuition liegt das komplexe Wissen verborgen, dass wir benötigen, um richtige Entscheidungen zu treffen und ein glückliches Leben zu führen. Seiner Intuition zu folgen, heißt also nicht, dem Verstand zu entsagen, sondern vielmehr in seiner Komplexität zu entfalten, ganzheitlich zu leben. Für dieses Verständnis braucht es das bereits erwähnte dreiteilige Persönlichkeitsmodell: Der Verstand, der das Leitbild des sogenannten Erwachsenen-Ichs ist, wird Rohleder zufolge durch ein Höheres-Ich, das mit der unsichtbaren Welt aller Gedanken, Stimmungen und Energien der Menschen verbunden ist und dem unsere Intuition entspringt, und durch ein Neugeborenen-Ich ergänzt. »Ihr inneres Kind ähnelt eher einem inneren Baby« (Seite 21). Es braucht Schutz, Nahrung, Wärme und einen Menschen, der sich liebevoll um es kümmert, da es noch besonders verletzlich ist. Damit ist keine Unreife des Erwachsenen beschrieben, sondern ein Pendant zum »Inneren Kind«, das normalsensible Menschen in sich tragen. Der Ratgeber gibt konkrete Tipps, wie sich diese tiefenpsychologische Erkenntnis gewinnbringend im Alltag umsetzen lässt, was es braucht und was nicht, worauf zu achten ist und was vernachlässigt werden kann. Dazu gehören etwa die Auswahl der passenden Menschen im eigenen Umfeld, das Arbeiten mit Ruhepausen oder ein gesundes Maß an Pragmatismus nicht nur im zwischenmenschlichen Bereich, sondern auch mit Blick auf die eigene Leistungserwartung. Wann bin ich zuständig und wann nicht? Worüber sollte ich nachdenken und was sollte ich weniger fokussieren? Welche Gefühle entsprechen der Situation und welche nicht?
Die klare und logische Struktur des Buches sowie seine angenehm zu lesende, fließende Sprache machen das Wissen und die Ratschläge einfach und unterhaltsam zugänglich. Das Buch ist dem Leser in jeder Hinsicht wohlgesonnen, inhaltlich wie sprachlich. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur Verständigung zwischen unterschiedlich sensiblen Menschen und kann normalsensible Menschen die Eigenschaften und Verhaltensweisen Hochsensibler besser und in ihrem positiven Sinne verstehen lassen. Hochsensible werden häufig, da sie nicht verstanden werden, verkannt, unterschätzt und missverstanden. Sie arbeiten sich an solchen Erlebnissen lange ab, gerade wenn sie sich selbst erst noch verstehen lernen müssen. »Lebensprobleme entstehen nicht deshalb, weil in der Vergangenheit etwas vorgefallen ist, sondern weil eigene Stärken nicht erkannt und gelebt werden« (Seite 45). Intuitiv zu leben, heißt also auch, gute Erfahrungen auf eine freie, schonende und emotional belastungsfreie Weise machen zu können. Der Ratgeber von Luca Rohleder macht Mut und unterstützt zwischenmenschliche Beziehungen mit Hochsensiblen.
Beruflich, äußerlich oft unabhängig, brauchen Hochsensible aber besonders für ihr emotionales, inneres Erleben andere Menschen, wenngleich sie gut und gern allein sind. Doch erst über die Gefühlswelt anderer Menschen spüren sie sich selbst. Das heißt nicht, dass es ihnen an Gefühlen mangelt, ganz im Gegenteil, aber für ihr zufriedenes und glückliches Erleben, ihre hochkomplexe Gefühlswelt, brauchen sie ein Gegenüber. Dazu gehört auch, dass sie das Bedürfnis haben, bei anderen Menschen Emotionen auszulösen, um eben jene Reaktionen zu erfahren, die für ihr Wohlbefinden so notwendig sind. Entscheidend ist also der bewusste Austausch emotionaler Gesten, der ihnen oftmals im normalen Umgang fehlt. Dieser Exkurs zur Gefühlswelt hochsensibler Menschen ist wichtig, um die psychologisch passende berufliche Situation für sie abzuleiten: selbständig arbeiten, frei von Hierarchien, unabhängig, schöpferisch entwickelnd und – hier der Bezug zu den Emotionen – helfend: Hochsensible möchten das Leben anderer verbessern und verschönern. Sie sind die perfekten Dienstleister, die sich in ihre Kunden einfühlen, sie verstehen lernen. Hochsensible möchten weniger sich selbst als vielmehr andere verstehen, sie möchten mit anderen fühlen, um sich zu erleben und anderen zu helfen. Zugleich erhalten sie dabei die Feedbacks, die für ihr psychisches Leben so wichtig sind: Dankbarkeit, Freude, Interesse, Neugier und alle positiven Gefühle, die sich helfend (egal in welchem Bereich) auslösen lassen. Dann macht ihnen die Arbeit Spaß, dann können sie lernen, ihre Gefühle positiv auszuleben und zu entwickeln.
Schaffen Sie es, genügend auf sich zu achten, das heißt auch zu lernen, einmal entgegen dem eigenen Pflichtgefühl und ihrer hohen Leistungsbereitschaft Nein zu sagen, überfordern sie sich nicht länger. Zugleich ist ihre Orientierung an einer hohen Leistung gepaart mit dem Drang, etwas eigenes als Dienstleister zu entwickeln, der Schlüssel zu ihrer emotionalen Unabhängigkeit und ihren beruflichen Erfolg. Sie sind dankbar und stolz auf das, was sie sich erschaffen. Hochsensible besitzen ein unternehmerisches Talent, da sie über viele Gaben verfügen, die sie gewinnbringend kombinieren können. Auf dem Weg zu ihrer Berufung durchlaufen hochsensible Menschen verschiedene Phasen der Persönlichkeitsentwicklung, die Rohleder am Ende seines Buches ausführt. Ziel dieser Entwicklungsphasen ist die Verbindung von Verstand und Gefühl, die Hochsensiblen nicht automatisch gegeben ist, und die Stärkung ihres Urvertrauens. Es ist spannend und für einen Hochsensiblen fantastisch zu lesen, wie sich die erlebten Eigenschaften und Schwierigkeiten am Ende auflösen lassen und zu einem entspannten und zufriedenen Leben führen können. Luca Rohleder gibt seinen Lesern damit nicht nur viel Zuversicht, sondern auch die Sicherheit, dass sie das Richtige auf ihrem Weg tun, wenn sie nichts überstürzen, bedacht durch alle Phasen der Entwicklung und mit Achtung, Selbstliebe und Offenheit durch die Welt gehen. »Sie lieben nun das Leben und spüren, dass das Leben auch sie liebt.« Welch ein Glück!
Hochsensible Menschen sind wunderbare Menschen, treu, loyal, einfühlsam, intelligent. Wenn sie den Mut haben ihren Weg zu gehen und wenn Sie den Mut haben, sich ihnen zu öffnen, werden sich nicht nur Zweifel und Vorurteile gegenüber diesen außergewöhnlichen und Ihnen manchmal vielleicht fremd erscheinenden Wesen auflösen können, sondern wird sich ein Meer an Möglichkeiten eröffnen, nach dem Sie sich wie auch hochsensible Menschen vielleicht schon lange sehnen.
Luca Rohleder, Die Berufung für Hochsensible, Die Gratwanderung zwischen Genialität und Zusammenbruch, dielus Verlag 1. Aufl. 2015, 5. Aufl. 2021.