»Die Erkenntnis der eigenen Hochsensibilität verändert nicht alles, aber sie lässt vieles im neuen Licht erscheinen.« Diesen und ähnliche Gedanken gibt die Autorin Sandra Tissot ihren Lesern mit, die sie an ihrer ganz persönlichen Geschichte teilhaben lässt – ihr Weg in die Selbständigkeit als Marketingexpertin. Dabei spricht Sandra Tissot diejenigen an, die sich ihrer Hochsensibilität bereits bewusst sind und erwägen, sich selbständig zu machen, und diejenigen, die ganz allgemein mehr über die Gabe der Hochsensibilität, ihren Grenzen und ihren Entfaltungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt erfahren möchten.
Hochsensibilität ist ein Phänomen, das inzwischen vielen bekannt und in einigen Aspekten einigermaßen gut erforscht ist, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung aber einen schweren Stand hat. Das Buch »Hochsensibilität und berufliche Selbständigkeit« ist im dielus Verlag erschienen, einem Ratgeber-Verlag aus Leipzig. Mit seinem Anliegen, seine Leser über dieses Buch mit dem Begriff »Hochsensibilität« vertraut(er) zu machen, leistet der Verlag einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Dabei geht es keineswegs nur darum, »Wie sich ein Sensibelchen selbständig machte und seine Lösung für das hochsensible Berufsleben fand« wie der etwas zu lang geratene und für einige sicher missverständliche Untertitel erwarten lässt. Vielmehr geht es darum, die Umwelt für die Besonderheit und den Wert hochsensibler Menschen zu – ja! – sensibilisieren und achtsamer zu machen. Dass die Rede vom »Sensibelchen« mit Ironie zu lesen ist, offenbart das Buch auf seinen ersten Seiten. Jedoch sind es gerade Schlagworte wie diese, die bei vielen Menschen bestehende Vorurteile bekräftigen, die so groß sind, dass ihre Neugier sie möglicherweise nicht über das Cover hinausträgt. Das wäre schade, denn das Buch entfaltet sich von einem teilweise etwas stereotyp anmutenden Erfahrungsbericht zu einer gelungenen Kraft- und Wissensquelle für hochsensible und ihnen gegenüber aufgeschlossene Menschen.
Hochsensibilität ist ein umstrittener Begriff und ein viel kritisiertes Konzept. Die Kritik am Phänomen Hochsensibilität kommt nicht aus der Wissenschaft allein, sondern auch von den Hochsensiblen selbst. Wie Hochsensibilität medizinisch und psychologisch zu anderen psychosozialen Erfahrungen und psychosomatischen Krankheiten abgrenzbar ist, ist eine der Hauptfragen der Kritiker. Denn Hochsensibilität ist nicht einfach messbar. Die neurologische Forschung, zu deren Methoden die Messung von Veränderungen im Gehirn gehört, steckt noch in den Kinderschuhen. Und so ist für viele Wissenschaftler Hochsensibilität eher ein modisches Konzept im Kosmos einer immer gesundheitsbewussteren Gesellschaft, an das fast unwahrscheinlich viele Menschen anknüpfen können. Demgegenüber stehen Forschungen, die sich Themen widmen wie z. B. Hochsensibilität und Hochbegabung oder Hochsensibilität und Liebe. Auf Seiten der »Betroffenen« gibt es ebenfalls unterschiedliche Haltungen: Da sind die einen, die ihre Hochsensibilität eher als ein Problem pathologisieren und sich in Stuhlkreisen gegenseitig zu helfen versuchen, um mit ihrem »Leiden« umzugehen oder gar medizinische Lösungen zu finden. Die Existenz von Hochsensibilität wird dabei nicht infrage gestellt, wohl aber ihre positive Bedeutung. Und da sind die anderen, die Hochsensibilität als ein ganz besonderes Persönlichkeitsmerkmal schätzen, als eine Gabe, die sich immer mehr ausprägt und über die man sich mit Gleichgesinnten verständigen möchte, um den richtigen Rahmen für sein Leben zu finden. Gerade beim Thema Hochsensibilität sind die »Begrifflichkeiten«, die immer mit bestimmten Konnotationen verknüpft sind, ein besonders sensibles Thema. Hochsensibel zu sein, ist gerade kein Ausschlag eines Verhaltens in ein negatives Extrem. Hochsensible sind nicht übertrieben sensibel, überempfindlich oder psychisch labil. Sie sind in besonderer Weise aufnahmefähig und durchlässig.
Doch was ist Hochsensibilität nun eigentlich? Hochsensibilität ist, so die These der US-amerikanischen Psychologin Dr. Elaine Aron aus den 1990er Jahren, die »gesteigerte Aktivität der für Emotionen und Verarbeitung von Sinneseindrücken verantwortlichen Hirnregionen«, um es in den Worten der Autorin Sandra Tissot zu sagen. Sandra Tissot lässt ihre Leser an ihrem Weg von der Anstellung in einer Werbeagentur in die Selbständigkeit als Marketingexpertin teilhaben. Dabei stehen ihre Erfahrungen im Vordergrund und werden nur wenige Informationen über den Stand der Forschung gegeben. Das ist okay, denn das Buch versteht sich als Erfahrungsbericht und Ratgeber und nicht als Fachbuch oder wissenschaftlichen Beitrag zum Thema. Dennoch ist das ein oder andere nicht unwichtig zu wissen, das auch Sandra Tissot ihren Lesern mitgibt: Hochsensibilität betrifft, das ergeben wissenschaftliche Studien, etwa 15-20% der Menschen auf der ganzen Welt, das ist immerhin jeder Fünfte. Betroffene haben eine niedrige sensorische Reizschwelle, sie reagieren sehr stark und schnell auf verschiedene Reize und verarbeiten sie tiefer – zum Beispiel schwingen Emotionen viel länger nach und werden sehr langsam verarbeitet.
Hochsensibilität betrifft alle Lebensbereiche eines Menschen und eröffnet genauso viele Horizonte wie sich Türen in der Erfahrungswelt dieser Menschen häufig schließen. Denn Hochsensible werden oft als zu empfindsam betrachtet, nicht leistungsfähig, nicht belastbar. Da sind der Chef, der Kollege oder ein Auftraggeber, gegen den sich durchzusetzen schwierig ist. Davon berichtet auch Sandra Tissot, die mit ihrem Buch zeigt, dass Hochsensibilität auch mit Blick auf die Arbeitswelt kein nur auf einen Lebensbereich begrenzbares Phänomen ist. Denn da ist auch die Vorsicht des Hochsensiblen, seine eigenen Talente stark und mutig zu vertreten. Da ist der Grübler, der sich einer Sache nur langsam annähern kann. Da ist die Schüchterne, die sich erst einmal vorsichtig und gründlich mit ihrem Gegenüber vertraut machen möchte, bevor Entscheidungen getroffen werden. Da ist der Idealist, der in seinem Tun den Sinn nicht nur für seinen Beruf, sondern sein ganzes Leben sucht. Sandra Tissot erzählt in ihrem Buch wie Hochsensible in der Arbeitswelt an ihre äußeren und inneren Grenzen geraten, was sie wahrnehmen, wie sie sich dabei fühlen und welche Lösungen in bestimmten Situationen im beruflichen Leben und auf dem Weg in die Selbständigkeit denkbar sind. Der erste Teil widmet sich ausführlich den notwendigen Schritten bis zur Gründung, den Begegnungen mit dem ehemaligen Kollegen und mit neuen Auftraggebern oder mit Mitarbeitern von Arbeitsämtern, Unternehmensberatungen und anderen Dienstleistern. Wenn dieses Buch nicht ein persönlicher, d. h. ganz subjektiver Erfahrungsbericht wäre, würde ich den Leser an dieser Stelle etwas warnen, denn die Erfahrungen mit z. B. Mitarbeitern von Ämtern können sehr unterschiedlich sein, für Hochsensible wie für nicht Hochsensible. Zuweilen verschwimmt in der ersten Hälfte des Buches der Blick auf die Konstitution des Hochsensiblen mit klischeehaften Erfahrungen, die von vielen gemacht und von noch viel mehr Menschen weitererzählt werden.
Das Buch gewinnt in der zweiten Hälfte an Schärfe und Informationswert. Sandra Tissot bringt dem Leser überzeugend näher, was Hochsensibilität konkret heißt und dass die berufliche Selbständigkeit nicht nur ein bedrohliches Wagnis, sondern eine echte Chance für hochsensible Menschen sein kann. Mehr noch: Hochsensible Menschen sind durch ihre Wesenszüge geradezu dafür gemacht, selbständig zu arbeiten. Wichtig nur, dass sie üben, mehr in sich und ihre besondere Gabe zu vertrauen. Selbständig zu sein bietet nämlich die Möglichkeit, das richtige Umfeld, den passenden Rhythmus, individuelle Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten den eigenen Bedürfnissen entsprechend entwickeln zu können: »Hochsensibilität und berufliche Selbständigkeit sind ein perfektes Match«, fasst Sandra Tissot zusammen. Die Autorin ermutigt ihre Leser, sich den Unsicherheiten und formalen Widrigkeiten, die zu Beginn einer jeden Selbständigkeit stehen, zu stellen. Und sie bestärkt ihre Leser darin, dem Ausgleich zwischen Berufs- und Privatleben genügend Zeit und Muße einzuräumen und ein Bewusstsein für die eigene physische und psychische Gesundheit zu schaffen. Anders als für die meisten Menschen fällt es Hochsensiblen nämlich besonders schwer, zwischen dem Arbeitsleben und der Freizeit, dem privaten Leben zu unterscheiden. Das betrifft nicht nur das Erledigen von beruflichen Aufgaben, die Bewältigung von Pflichten und die Organisation von besonderen Erlebnissen. Das Besondere ist, dass hochsensible Menschen in jeder ihrer Rollen immer die Komplexität ihres ganzen Seins – ihres Denkens, ihres Fühlens, ihres Handelns – erleben und bewältigen. Da sich ihr Tun oder ihr Verhalten gegenüber anderen Menschen mit besonders stark ausgeprägten Wertvorstellungen, Idealen und Sinnfragen verbindet, lässt es sich nicht von ihrer grundsätzlichen Haltung und damit nicht von ihrem privaten Ich pragmatisch abspalten.
Entlang ihrer eigenen Erfahrungen berichtet die Autorin Sandra Tissot nicht nur von den Hürden, den Herausforderungen und den Erfolgen auf dem Weg in die Selbständigkeit. Ihr Erfahrungsbericht – und das macht dieses Buch so lesenswert – gibt ihren Lesern ganz konkrete Hinweise, worauf sie achten müssen. Über ihr tiefes Verständnis von Hochsensibilität fühlt sie sich in ihre Leser ein, lässt sie teilhaben, aber regt auch zur eigenen Lebensgestaltung an. Ob Empfehlungen für die Loslösung aus geregelten Strukturen eines Angestellten, für die Gründungsphase oder für Gespräche mit Ämtern oder Kollegen, ob Tipps für das eigene Zeitmanagement, die Ernährung oder die Wahl von Sportarten, die in den Erfahrungsbericht eingestreuten kurzen und prägnanten Hinweise und Aussagen lassen sich für den Leser wie ein Leitfaden auch nach der ersten Lektüre lesen.
Seinen Höhepunkt findet dieses Buch, das in Stil und Sprache an einigen Stellen etwas ausgereifter sein könnte, in der Reflexion über das individuelle Glück. Mit Rückgriff auf Philosophen und Schriftsteller stellt Sandra Tissot ihren Lesern eine Reihe Zitate zusammen, die sich teilweise als Affirmationen einsetzen lassen. Dabei verbindet sie die Erkenntnisse über das Glück mit den Chancen und Versprechen eines selbständigen Berufslebens, das gerade für den Hochsensiblen die Verwirklichung seiner Ideale und Überzeugungen, seinen großen Wunsch nach Sinnstiftung befriedigen kann. Sandra Tissots Ausführungen zum individuellen Glück sind für jeden, ob selbständig oder angestellt, ein Glücksfall, denn: »Glück ist Liebe, nichts anderes. Wer lieben kann, ist glücklich« (Hermann Hesse). Ob hochsensibel oder nicht, wir alle können unsere Sinne nie genug schärfen und unsere Antennen nie weit genug in diese Welt und zu anderen Menschen, denen wir uns mit unseren Erfahrungen verwandt fühlen, ausstrecken. Werden wir also aufmerksam aufeinander und gehen wir achtsam miteinander um, es lohnt sich: »Die Erkenntnis der Hochsensibilität ermöglicht es mir, die damit verbundenen Talente für eine individuelle Potenzialentwicklung im Berufsleben zu nutzen. Denn der hochsensible Blick wird gerade in der heutigen Arbeitswelt besonders gebraucht, in der nur allzu oft die Ellenbogenmentalität vorherrscht und scheinbar nur der, der am lautesten schreit, überhaupt noch Gehör findet.«
Sandra Tissot, »Hochsensibilität und berufliche Selbständigkeit. Wie sich ein Sensibelchen selbständig machte und seine Lösung für das hochsensible Berufsleben fand«, dielus Verlag 2017.